Die Geschichte hinter der Entstehung des ursprünglich für Gitarrebegleitung komponierten Weihnachtsliedes “Stille Nacht” im Jahre 1818 ist faszinierend. Mehr dazu gibt es, extern, hier. Ebenso eindrücklich ist aber seine Wirkungsgeschichte – eine Wirkungs-Geschichte ganz besonders.
Das Ereignis des Weihnachtsfriedens von 1914, auf das ich anspiele, ist wohl hinlänglich bekannt. Es kann aber wieder und wieder erzählt werden, ohne dass es an Faszination einbüsst. Ich jedenfalls kann mich daran nicht satt denken.
Der ehemalige “Stern”-Chefredaktor Michael Jürgs hat vor einigen Jahren zu diesem als “kleinen Frieden im Grossen Krieg” apostrophierten Weihnachtswunder ein Buch desselben Titels verfasst, das gleichsam eine O-Ton-Collage aus Feldpost-Berichten und Tagebuch-Einträgen von der Front sowie aus späteren Erinnerungen der Beteiligten ist. Ein Auszug daraus:
“Von jener Begeisterung, in der im August 1914 die Völker Europas wie besoffen in den Krieg zogen, ist nach insgesamt bereits einer Million Toter im Dezember 1914 nichts mehr geblieben. Im Blut ertrunken. Kein Wunder, dass eines an Weihnachten geschieht. […]
Anfangs ist es nur einer, der Stille Nacht, heilige Nacht vor sich hin singt. Leise klingt die Weise von Christi Geburt, verloren schwebt sie in der toten Landschaft Flanderns. Doch dann brandet Gesang wie eine Welle übers Feld, ‘um Schulterwehr und Schulterwehr und von der ganzen langen dunklen Linie der Schützengräben klang es empor: Schlafe in himmlischer Ruh’. Diesseits des Feldes, hundert Meter entfernt, in den Stellungen der Briten, bleibt es ruhig. Die deutschen Soldaten aber sind in Stimmung, Lied um Lied ertönt ein Konzert aus ‘Tausenden von Männerkehlen rechts und links’, bis denen nach Es ist ein Ros entsprungen die Luft ausgeht. Als der letzte Ton verklungen ist, warten die drüben noch eine Minute, dann beginnen sie zu klatschen und ‘Good, old Fritz’ zu rufen, und: ‘Encore, encore’, ‘more, more’. Zugabe, Zugabe.
Die derart hoch gelobten Fritzens antworten mit ‘Merry Christmas, Englishmen’ und ‘We not shoot, you not shoot’, und was sie da rufen, das meinen sie ernst. Sie stellen auf den Spitzen ihrer Brustwehren, die fast einen Meter über den Rand der Gräben ragen, Kerzen auf und zünden sie an. Bald flackern die, aufgereihten Perlen gleich, durch die Finsternis. Wie das Rampenlicht eines Theaters habe es ausgesehen, wird ein englischer Soldat seinen Eltern schreiben, ‘like the footlights of a theatre’.
Die Bühne für die Inszenierung ist damit ausgeleuchtet, die Generalprobe für ein Stück gelungen, das an den nächsten Tagen an der Westfront gegeben wird. Hier und dort und überall von der Nordsee bis zur Schweizer Grenze. Der Intendant oben in seiner Loge hatte für Flandern beste äussere Bedingungen geschaffen. Nach Einbruch der Dunkelheit an diesem 24. Dezember 1914 – und dunkel ist es bereits gegen sechzehn Uhr – verzog sich der Wind. Klarer Sternenhimmel ‘grüsste uns von der Wohnung des Allmächtigen herab’, und der Vollmond ‘verlieh der weiten, schönen flandrischen Rembrandtlandschaft durch sein mildes Licht das Gepräge wohltuenden Friedens’.
Beides hilft jetzt, Mond und Kerzen. Jede verdächtige Bewegung im Niemandsland wäre sichtbar. Ehre sei Gott in der Höhe, Friede den Menschen auf Erden, verkündet das Evangelium für diesen Tag. Aber in offenbar gewordener Abwesenheit eines Höheren auf Erden beschliessen Deutsche und Briten spontan, Franzosen und Belgier zögernd, an Weihnachten, ohne auf Gottes Segen zu warten, nicht aufeinander zu schiessen.”
(Aus: Jürgs, Michael: Der kleine Frieden im Grossen Krieg, Goldmann, München 2005, S. 77/7f.)
Ob Gott tatsächlich abwesend war in jenem Krieg, den wir heute als den Ersten Weltweiten kennen? Ob er sich wirklich einen Teufel geschert hat um das Menschengeschlecht? Die Soldaten in den Schützengräben, die noch wenige Monate zuvor für Gott und Vaterland in den Krieg gezogen waren, müssen jedenfalls mehr und mehr so empfunden haben. Umso wundervoller, ja: Wunder-voller, dass in Form der spontanen Verbrüderung, die an einigen Frontabschnitten mehrere Tage andauerte, die Weihnachtsbotschaft direkt und punktgenau in die kalte Wirklichkeit einbrach – als Waffenruhe und gemeinsames Begraben der Toten, beim Austausch von Geschenkspaketen aus der Heimat, bei improvisierten Fussballspielen im Niemandsland zwischen den Gräben der Einen und den Gräben der Anderen…
An wohl kaum einem anderen Ort findet sich das Weihnachtsereignis aus dieser Sicht besser umschrieben als in der (nicht im evangelisch-reformierten Gesangbuch enthaltenen) vierten Strophe von, ausgerechnet!, “Stille Nacht” selbst, beinahe hundert Jahre vorher im österreichischen Oberndorf uraufgeführt – und offenbar einer von vielen kleinen Katalysatoren für den Zwischenfrieden:
Stille Nacht! Heil’ge Nacht!
Wo sich heut’ alle Macht
Väterlicher Liebe ergoss
Und als Bruder Huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt!
Jesus die Völker der Welt!
(Aus: “Stille Nacht”, Text: Joseph Mohr, Musik: Franz Xaver Gruber)
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern frohe, friedliche Weihnachtstage und ein paar geruhsame Momente zum Ausklang dieses Jahres.