Als ich kürzlich ferienhalber anderthalb Wochen im Ausland weilte, wollte ich mich von all der Theologie und all dem Lesen erholen und habe hauptsächlich – Theologisches und Theologienahes gelesen. [1]
In den letzten zwei Jahren hatte sich nämlich ein Haufen Bücher angesammelt, die seit ihrer Anschaffung der geistigen Verarbeitung harrten (“wenn ich mal viel Zeit habe!”), und so kam schliesslich ein ganzer Koffer voller Literatur mit. Wenn schon, denn schon!
Jeweils morgens erkor ich dann in freier Wahl zur Tageslektüre, was mich gerade am meisten ansprach. Hier die Stationen meines Lesemarathons:
a. Bodnár, Alice: Der ewige Kollege. Reportagen aus der Nähe des Todes, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009. Interviews mit Menschen, die von Berufes wegen ständig vom Tod umgeben sind: einem Bestatter, einer Ärztin und einer Psychologin aus der Onkologie, drei Kriminalpolizisten, einer Hospizleiterin, einem Rechtsmediziner und dem Leiter eines Altersheims. Welches sind ihre Motivationen und Erfahrungen im (eigenen wie dem fremden) Umgang mit dem Tod? Interessant – und gut gemacht.
b. Rückert, Sabine: Unrecht im Namen des Volkes. Ein Justizirrtum und seine Folgen, Hamburg: Hoffmann & Campe Verlag, 2007. Präzise Rekonstruktion einer Geschichte, die mit falschen Vergewaltigungs-Anschuldigungen begann und mit Schuldsprüchen für die beiden Angeklagten endete – bevor deren Unschuld im Wiederaufnahmeverfahren nachgewiesen wurde. Die sauber recherchierte Berichterstattung der ZEIT-Gerichtsreporterin Rückert (die später auch im Kachelmann-Prozess durch Unaufgeregtheit auffiel) trug dazu bei, den Justizirrtum, der eher ein Justizskandal ist, aufzudecken; das Buch basiert auf diesen Recherchen. Spannender als ein Krimi – aber wahr.
c. Matussek, Matthias: Das katholische Abenteuer. Eine Provokation, München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2011. Lose Zusammenstellung von Essays, die eine Lanze für den Katholizismus brechen wollen – mal mehr, mal weniger gelungen. Die “Provokation”, die der Untertitel verspricht, ist mir nicht aufgefallen. Vielleicht bin ich aber auch einfach zu wenig antikatholisch eingestellt, um schon die Apologie des Katholizismus als Provokation zu empfinden.
d. Schorlemmer, Andreas: Manchmal hilft nur Schweigen. Meine Arbeit als Polizeipastor, Berlin: Ullstein, 2007. Der Autor berichtet über ausgewählte Erlebnisse seiner Tätigkeit als Polizeiseelsorger, leider über weite Strecken fahrig und banal. Mehr noch: Nehme ich die Schilderungen zur Grundlage, so möchte ich hiermit festgehalten haben, dass ich eine Todesnachricht, wenns geht, bitte nie von ihm übermittelt bekommen möchte. Manchmal hilft, wie der Buchtitel besagt, wirklich nur Schweigen – oder zumindest ein gestrenger Lektor. (Dass es viel, viel besser geht, zeigt Buch i).
e. Baum, Markus: Jochen Klepper, Schwarzenfeld: Neufeld Verlag, 2011. Eine der wenigen problemlos erhältlichen Biographien über den Autor, Dichter, Schriftsteller Jochen Klepper, den ich, wie bekannt, sehr mag. Ein bestens lesbares Buch, das den Künstler und Menschen Klepper kurz vor dessen 70. Todestag (er verstarb am 11.12.1942) auf eindrückliche Art näher bringt. Ich fände es schön, wenn seiner im Dezember auch in der Schweiz gedacht würde – es sind ja sicher nicht jetzt schon alle Advents-Predigten geschrieben…
f. Rosentreter, Sophie: Komm her, wo soll ich hin? Warum alte und demenzkranke Menschen in die Mitte unserer Gesellschaft gehören, Frankfurt a.M.: Westend, 2012. Die Begleitung ihrer an Alzheimer erkrankten Grossmutter veranlasste die Autorin, sich mit dem Thema Demenz auseinanderzusetzen. Das Buch ist eine Mischung aus Familienerinnerungen, gesellschaftlicher Bestandsaufnahme und konkreten, mit Fachleuten diskutierten Vorschlägen für die Betreuung zu Hause wie für die institutionelle Pflegepraxis – dies alles, zumindest aus meiner (Laien-)Sicht, wohldosiert und niemals platt. Beeindruckend. (Die Autorin ist auch online präsent.)
g. Tietze, Ulrich (Hg.): Nur die Bösen? Seelsorge im Strafvollzug, Hannover: Lutherisches Verlagshaus, 2011. Verschiedene Gefängnisseelsorger schildern ihr Tätigkeitsfeld. Wie bei Buch d: belanglos und banal, lausiges Lektorat. Keine Kaufempfehlung – und so suche ich weiter nach brauchbarer Literatur über diesen wichtigen Bereich christlicher und kirchlicher Seelsorge.
h. Pachmann, Herbert: Nur der ganze Gott kann helfen, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. Plädoyer für einen “ganzheitlichen”, vielschichtigen Gottesbegriff – und gegen die eindimensionale (aber kuschelig-warme) Vorstellung vom “lieben” Marzipan-Gott. Eine Herausforderung für die eigene Theologie, aber das (Glaubens-)Leben schreckt vor Prüfungen halt nicht zurück. Gutes Buch.
i. Grützner, Kurt/Gröger, Wolfgang/Kiehn, Claudia/Schiewek, Werner (Hg.): Handbuch Polizeiseelsorge, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006. Sammlung von Aufsätzen zu verschiedenen Arbeitsbereichen christlicher Polizeiseelsorge, von Praktikern geschrieben, die zu den entsprechenden Tätigkeitfeldern wirklich etwas zu sagen haben, auch die sozialen, rechtlichen und institutionellen Rahmenbedingungen benennen, die wissenschaftliche Theologie nicht ausklammern und zur Selbstreflexion fähig sind. Grossartig.
k. Schnepper, Arndt Elmar: Frei predigen. Ohne Manuskript auf der Kanzel, Witten: SCM R. Brockhaus, 2010. Streitschrift pro (manuskript-)freie Predigt…
l. Deeg, Alexander/Meyer-Blanck, Michael/Stäblein, Christian: Präsent predigen. Eine Streitschrift wider die Ideologisierung der “freien” Kanzelrede, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2011. …und die professorale Gegenschrift. Ein interessanter Diskurs mit beidseits berechtigten Argumenten – wenn nur darauf verzichtet würde, den Anhängern der jeweils anderen Auffassung in erster Linie deren negativen Auswüchse vorzuhalten: Weder sind die Manuskript-Aficionados allesamt emotionslose, sozialgestörte Ableser noch die freien Prediger vorbereitungsfaule Menschenverführer und Wahrheitenverkäufer. Immerhin: interessante Praxisanregungen von beiden “Parteien”.
m. de Saint-Exupéry, Antoine: Nachtflug. Mein erster Roman seit langem – vor zig Jahren habe ich diese Geschichte aus der Pionierzeit des, eben, Nachtflugs zum ersten Mal gelesen. Wenig Handlung, aber viel Spannung, die von der wort- und bildgewaltigen Sprache Saint-Exupérys lebt (kongenial ins Deutsche übertragen auf der Basis einer Übersetzung von Hans Reisiger). Ein Gedicht!
n. Uhl, Volker (Hg.): Die erste Leiche vergisst man nicht. Polizisten erzählen, München: Piper, 2005. Kurze Geschichten aus dem Polizei-Alltag, welche den persönlichen Umgang mit dem Tod (und der Todesgefahr) derjenigen aufzeigen, die an vorderster Front zugunsten unserer Sicherheit Kopf, Herz und Hand hinhalten. Eine äusserst heterogene Mischung – teils sehr gut geschrieben, häufig rührend gestelzt, bisweilen auch einfach schlecht. Ist für mich aber in Ordnung, weil das Gesamtbild zählt und die Motivation der sogenannten Polizei-Poeten, in deren Umfeld das Buch entstand, meine Sympathie hat.
o. Uhl, Volker (Hg.): Jeden Tag den Tod vor Augen. Polizisten erzählen, München: Piper, 2006. Dasselbe in (Polizei-)Grün. Mit dem Unterschied dass hierfür nicht Dietz Werner Steck das Vorwort schrieb, sondern Maria Furtwängler.
p. Führer, Christian: Und wir sind dabei gewesen. Die Revolution, die aus der Kirche kam, Berlin: Ullstein, 2009. Autobiographie des ehemaligen Pfarrers der Leipziger Nikolaikirche, der durch seine Friedensgebete – und vieles mehr – für immer mit der friedlichen Revolution in der DDR in Verbindung gebracht werden wird. Die Lebensgeschichte beschränkt sich allerdings (und zum Glück) nicht auf diese zeitgeschichtlich besonders ereignisvolle und wichtige Phase. Insbesondere die Schilderungen des florierenden gemeindlichen Lebens in der ostdeutschen Provinz unter erschwerten (staatlichen) Bedingungen sind äusserst interessant zu lesen – und die Ausführungen dazu lehrreich.
q. Schabowski, Günter/Sieren, Frank: Wir haben fast alles falsch gemacht. Die letzten Tage der DDR, Berlin: Econ, 2009. Interview mit dem ehemaligen “Regierungssprecher” der DDR, der seinen Platz in der Geschichte hat als der Mann, der aus Versehen (verfrüht) die Mauer öffnete. Ein Geschichtsunterricht der Extraklasse, wobei Schabowski mit dem Sozialismus und seiner eigenen Rolle in der letzten deutschen Diktatur überaus hart ins Gericht geht (Frage von rechtlicher vs. moralischer Schuld!). Eindrücklich.
r. Nagel, Eckhard/Göring-Eckardt, Katrin: Aber die Liebe… Christsein aus ganzem Herzen, Freiburg: Kreuz Verlag, 2010. Der Katholik Nagel und die Lutheranerin Göring-Eckardt waren Mitglieder des Präsidiums des 2. Oekumenischen Kirchentags (2010), ihr Buch basiert auf Diskussionen, die in ebenjenem Gremium in Bezug auf das Kirchentags-Motto geführt wurden (gewählt wurde schliesslich “Damit ihr Hoffnung habt”). Diesen Kontext merkt man dem Werk an: Wohl werden, was durchaus interessant ist, unterschiedliche Aspekte der Liebe behandelt – dies allerdings in gefühlerischen Formulierungen, die ich in Zukunft als Kirchentagssprache identifizieren werde. Und meiden.
s. Struck, Peter: So läuft das. Politik mit Ecken und Kanten, Berlin: Propyläen, 2010. Rückblick des ehemaligen SPD-Fraktionsvorsitzenden und -Bundesministers auf seine Zeit in der Politik – fast im Plauderton, mit zahlreichen Anekdoten, die ein interessantes Bild vom Parlamentsbetrieb und der Regierungsarbeit zeichnen.
Nach zehn Tagen, umgerechnet: knapp 4000 Seiten, waren die Ferien zu Ende – zumindest lesetechnisch zum richtigen Zeitpunkt, denn der Proviant an Lektüre war bis dahin grossteils aufgebraucht. [2]
Mal schauen, ob ich demnächst noch ein Lesewochenende einlegen kann – bevor es im September mit dem Praxissemester losgeht. Jedenfalls bin ich, früher ein begeisterter Freizeitleser, jetzt wieder angefixt.
Das mit der Themenvielfalt wird aber wahrscheinlich nichts mehr.
[1] Die während meiner Abwesenheit eingestellten Beiträge hatte ich noch vor der Abfahrt verfasst und konnte ich dank WiFi rhythmusgetreu ins Netz stellen. Muss ja nicht jeder merken, dass die Wohnung leer steht…
[2] Nicht mehr gereicht hat es lediglich für die neue Bonhoeffer- und eine vielversprechende Paul-Schneider-Biographie sowie ein paar wenige Bücher, die mich, täglich vor die Wahl gestellt, jeweils ein bisschen weniger reizten als die Konkurrenz.