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“On’y a piece of a big one…” – zum Ewigkeitssonntag

By , 20/11/2011 16:00

Es gibt Schriftsteller, die mit Kritikerpreisen hochdekoriert sind – und die doch lesbar schreiben. Und deren Werken, Pflichtstoff jeder weiterführenden Schule, kein Unterricht der Welt etwas anhaben kann, weil sie auch ohne Auszeichnungen ausgezeichnet wären – und sämtliche übermotivierten Lesehinweise und Interpretationsversuche wohlmeinender Lehrer sie nicht berühren. So ein Schriftsteller ist John Steinbeck, so ein Werk ist sein Monumentalroman “Grapes of Wrath”. [1]

Darin schildert Steinbeck die Geschichte der Joads, die ihre Heimat Oklahoma verlassen, um als Wanderarbeiter ihr Glück in Kalifornien zu suchen – wo sie schliesslich doch nur Elend und Ausbeutung finden. Steinbeck konnte hierbei auf die Ergebnisse von Recherchen zurückgreifen, die er für eine (dokumentarische) Artikelserie für die “San Francisco News” zu ebendiesem Thema angestellt hatte. So erzählt er zwar die Geschichte einer fiktiven Familie – dies aber durch und durch realistisch. [2]

Für “Grapes of Wrath” erhielt Steinbeck 1940 den Pulitzerpreis; im selben Jahr wurde der Roman von John Ford hochklassig verfilmt. 1962 folgte der Literatur-Nobelpreis für das Gesamtwerk.

Das Zitat, das ich ausgewählt habe, entstammt einem der letzten Kapitel des Buchs. Tom Joad, zweiter Sohn der Familie Joad und Hauptfigur des Buchs, ist auf der Flucht vor der Staatsgewalt, nachdem er im Affekt den Mörder seines Freundes Jim Casy, eines ehemaligen Predigers, umgebracht hat – und sagt seiner Mutter Lebewohl.

“You don’t aim to kill nobody, Tom?”
“No, I been thinkin’, long as I’m a outlaw anyways, maybe I could – Hell, I ain’t thought it out clear, Ma. Don’ worry me now. Don’ worry me.”
They sat silent in the coal-black cave of vines. Ma said, “How’m I gonna know ’bout you? They might kill ya an’ I wouldn’t know. They might hurt ya. How’m I gonna know?”
Tom laughed uneasily, “Well, maybe like Casy says, a fella ain’t got a soul of his own, but on’y a piece of a big one – an’ then – ”
“Then what, Tom?”
“Then it don’t matter. Then I’ll be aroun’ in the dark. I’ll be ever’where – wherever you look. Wherever they’s a fight so hungry people can eat, I’ll be there. Wherever they’s a cop beatin’ up a guy, I’ll be there. If Casy knowed, why, I’ll be in the way guys yell when they’re mad an’ – I’ll be in the way kids laugh when they’re hungry an’ they know supper’s ready. An’ when our folks eat the stuff they raise an’ live in the houses they build – why, I’ll be there. See? God, I’m talkin’ like Casy. Comes of thinkin’ about him so much. Seems like I can see him sometimes.”
“I don’ un’erstand’,” Ma said. “I don’t really know.”
[3][4]

(Aus: John Steinbeck, Grapes of Wrath, Penguin Books, New York 1992, S. 495)

Eine interessante, tröstliche Vorstellung, “a fella ain’t got a soul of his own, but on’y a piece of a big one”… So bleibt immer etwas, von jedem, der gegangen ist: von seinen Taten, seinem Denken, seinem blossen Dasein. Darauf will ich heute, am Ewigkeitssonntag, hoffen – ehe vielleicht schon morgen die Zweifel von Mutter Joad sich melden. [5]

[1] Wollte ich nicht auf ein bestimmtes Zitat aus diesem Roman (1939 erschienen; dt. “Früchte des Zorns”) hinzielen, so könnte ich mit bestem Gewissen auch “Of Mice and Men” (1937; “Von Mäusen und Menschen”) empfehlen, das ein ähnliches Thema behandelt. Oder “In Dubious Battle (1936; “Stürmische Ernte”). Oder “East of Eden” (1952; “Jenseits von Eden”. Oder…
[2] So realistisch-packend übrigens, dass ich den Roman bei der ersten Lektüre, ungefähr 2001, nicht nur zu Hause und im ÖV las, sondern ihn auch für die Fussmärsche dazwischen nicht wegpacken wollte. So ging ich also, nicht nach links, nicht nach rechts schauend, höchstens hin und wieder über den oberen Buchrand nach vorne lugend – und sog das Buch regelrecht auf.
[3] In der deutschen Übersetzung:
“Aber Du willst doch keinen umbringen, Tom?” – “Nein. Ich habe gedacht, wo ich doch sowieso ‘n Verbrecher bin, könnte ich vielleicht… Ach, ich hab’ es noch nicht zu Ende gedacht, Mutter. Lass mich nur machen.” Sie sassen still in ihrer schwarzen Höhle. Mutter sagte: “Aber wie soll ich denn wissen, wo du bist? Vielleicht machen sie dich tot, und ich weiss es nicht. Vielleicht schlagen sie dich. Wie soll ich das denn dann wissen?” Tom lachte verlegen: “Ich denke mir, wie Casy sagt, keiner hat ‘ne eigne Seele und ist nur ‘n Stück von der grossen – und dann.” – “Und dann was, Tom?” – “Dann ist’s egal. Dann bin ich überall – überall, wo du hinsiehst. Wo’s ‘ne Prügelei gibt, damit die Hungrigen was zu essen kriegen, bin ich dabei. Wenn einer von ‘nem Bullen geschlagen wird, bin ich dabei. Wenn Casy das wüsste. Ich bin dabei, wenn welche schreien, weil sie wild und wütend werden – und ich bin dabei, wenn Kinder lachen, wenn sie Hunger haben und wissen, es gibt gleich was zu essen. Und wenn unsre Leute das essen, was sie selber gebaut haben, und in Häusern leben, die sie selber gebaut haben – dann bin ich dabei. Verstehst du? Gott, ich rede schon wie Casy. Das kommt, weil ich so viel an ihn gedacht habe. Manchmal ist es, wie wenn ich ihn sehe.” – “Ich versteh’ es nicht”, sagte Mutter. “Und ich weiss nicht, was du willst.” (Aus: John Steinbeck, Früchte des Zorns [ins Deutsche übertragen von Klaus Lambrecht], Deutscher Taschenbuch Verlag, 13. Auflage, München 2001, S. 491f.)

[4] Bruce Springsteen hat sich von “Grapes of Wrath” inspirieren lassen und 1995 das grossartige akustische Album “The Ghost of Tom Joad” veröffentlicht, dessen Texte, der Titel verrät es, im Geiste Tom Joads – oder John Steinbecks? – geschrieben sind. Toms oben zitierter Monolog (“I’ll be ever’where…”) wird im Titelstück beinahe wörtlich wiedergegeben.
[5] Das darf man doch als Gläubiger: glauben und zweifeln. Nicht?

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