Viel habe ich schon selbst über mein Diakonie-Praktikum geschrieben. In der letzten Woche meines kurzen Einsatzes im Altersheim wurde ich darüberhinaus von der Lokalzeitung der Gemeinde, in der ich das Praxissemester absolviere, dem “Zolliker Boten”, um ein Gespräch über das Praktikum und meine Eindrücke gebeten. Das Resultat ist in der heutigen Ausgabe abgedruckt (Nr. 40, 5.10.2012). Dank freundlicher Genehmigung durch den Verlag kann ich den Text hier wiedergeben (auch als pdf verfügbar – inkl. Föteli):
“Die Menschen in ihrem Leben begleiten”
Der 32-jährige Reto Studer hat ein Ziel: Er will ein Pfarramt übernehmen. Doch bis es soweit ist, hat er noch einen langen Weg vor sich. In den vergangenen drei Wochen arbeitete er als Praktikant im Altersheim Rebwies.
Nein, wie ein Pfarrer sieht Reto Studer nicht aus – eher wie ein Pfleger. Denn anstelle eines Talars trägt er weisse Hosen und ein blaues Polo-Shirt mit der Aufschrift “Altersheim Rebwies”. Dies hat seinen Grund: Seit drei Wochen absolviert er ein Praktikum im Rahmen seines kirchlichen Praxissemesters. Reto Studer hat mittlerweile drei Jahre Theologiestudium hinter sich. Das Praxissemester liegt zwischen Bachelor- und Masterstudium und besteht aus insgesamt vier Praktika. Im Altersheim Rebwies wird Reto Studer im Bereich der Diakonie eingesetzt.
Für den jungen Mann war die Aufnahme des Theologiestudiums ein gut überlegter Schritt. Seinen ersten Studienabschluss hat Reto Studer schon länger in der Tasche. Er erwarb das Lizenziat in Medienwissenschaften und Staatsrecht. Eher per Zufall, so erzählt er, landete er daraufhin im Personalbereich. Drei Jahre lang arbeitete er im Headhunting. Und nun will er also Pfarrer werden. Weshalb dieser Schritt? “Ich beschäftigte mich schon immer mit existentiellen Fragen. Über die Zeit verstärkte sich dann der Wunsch, diesen Fragen mehr Raum zu geben und ein Theologiestudium anzuhängen.” Er habe sich aber lange überlegt, ob dies der richtige Schritt sei. Denn er wollte kein Risiko eingehen – und kannte auch die Klischees über die Theologie: “Wie viele andere hatte ich das Vorurteil, Theologen führten ein etwas vergeistigtes Leben.” Deshalb entschloss er sich, zunächst während eines Jahres berufsbegleitend Hebräisch zu lernen. “In jenem Jahr wollte ich auch herausfinden, was für Menschen an der Theologischen Fakultät ein- und ausgehen. Und ich war positiv überrascht”, erinnert er sich an den Beginn der Ausbildung. Viele der Studierenden wählten Theologie als Zweitausbildung, das habe er nicht erwartet. Fasziniert sei er auch vom breiten Spektrum der Studierenden. “Von der Hausfrau über Pensionierte, die nur einige Fächer belegen, bis zu den Studierenden, die direkt vom Gymnasium kommen, sind alle vertreten. So kommt es immer wieder zu guten und spannenden Diskussionen. Ich glaube, diese Offenheit traut man Theologiestudenten nicht immer zu.” Nach dem “Probejahr” war er überzeugt, dass das Theologiestudium das Richtige für ihn sei.
Eine sehr spannende Aufgabe
Drei Wochen lang arbeitete Reto Studer nun im Altersheim Rebwies. Neben seinen seelsorgerlichen Aufgaben war er auch bei der Essensausgabe dabei, er half in der Cafeteria und in der Spätschicht, oder sang mit den Pensionären. Während all dieser Arbeiten suchte er immer wieder das Gespräch mit den Bewohnern, die teilweise aber auch von sich aus auf ihn zugekommen seien. Berührungsängste habe es auf beiden Seiten nicht gegeben, sein Status als “angehender Pfarrer” habe, nicht nur im übertragenen Sinn, viele Türen geöffnet: Mehrere Senioren habe er auch, aus Eigeninitiative oder auf Anraten der Pflegerinnen oder der Altersheimleitung, in ihren Zimmern besucht, um dort ausführlichere Gespräche mit ihnen zu führen – über Gott und die Welt. Oder auch einfach, um etwas mit ihnen zu unternehmen. Er erzählt vom Ausflug mit einer Pensionärin: “Ich spazierte mit der Dame an einen Ort, an dem sie früher, als junge Frau, oft war. Sie erzählte mir, dass dieser Ort für sie der Inbegriff von Heimat sei. Ohne meine Begleitung wäre sie nicht dorthin zurückgekehrt. Noch Tage danach war sie mir dafür einfach nur dankbar.” Oder da war das Gespräch mit dem Herrn, der im einen Moment mit Tränen in den Augen von seiner verstorbenen Frau erzählte und gleich danach lachend davon, dass er im Altersheim der Hahn im Korb sei. Solche Erfahrungen und Gespräche seien sehr berührend.
Wäre er als junger angehender Pfarrer eigentlich nicht bei den Jugendlichen besser aufgehoben? Reto Studer lacht und meint: “Ich unterrichte zwar im Nebenjob auf der Sekundarstufe – aber gerade nach meinen eindrücklichen Erfahrungen im Altersheim sehe ich mich durchaus auch bei den älteren Menschen. Für mich ist letztlich die Mischung spannend.”
Ein Pfarramt übernehmen
Die drei Wochen im Altersheim Rebwies sind seit Mittwoch vorbei. Im Dezember und Januar wird Reto Studer an Seite der Zolliker Pfarrerin Anne-Käthi Rüegg-Schweizer die vier zentralen Handlungsfelder des Pfarrberufs kennen lernen – auch das ein Teil des Praxissemesters. Er wird in diesen acht Wochen die Pfarrerin begleiten, Gottesdienste und den Unterricht mitgestalten, die Seelsorge und den Gemeindeaufbau kennenlernen. Dann geht es zurück an die Uni, wo ihn das Masterstudium erwartet.
Nach dem Studienabschluss wird Reto Studer das einjährige Lernvikariat absolvieren, bevor er ordiniert werden kann und als Pfarrer wählbar ist. Kommt er für das Vikariat zurück nach Zollikon? “Nein, das ist nicht erlaubt. Ich darf für das Vikariat nicht an denselben Ort, an dem ich das Praxissemester verbracht habe.” Einerseits sei das schade, weil er in Zollikon sehr gut aufgenommen worden sei, anderseits sei es aber auch gut so: “Jetzt bin ich Praktikant. Wenn ich später hierher zurückkäme, wäre ich Vikar. Das sind zwei verschiedene Rollen, die nicht vermischt werden sollten. Ausserdem sollen wir in der Ausbildung verschiedene Kirchgemeinden kennenzulernen.” Eines ist für Reto Studer sicher: “Ich strebe ein Pfarramt mit möglichst vielfältigen Aufgaben an. Ich möchte die Menschen in ihrem Leben begleiten und dabei alle Aspekte pfarramtlicher Tätigkeit abdecken.”
(Erschienen in: “Zolliker Bote”, Nr. 40, 5.10.2012, S. 9; Autorin: Sabine Linder-Binswanger)