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Beim Vorbereiten für das Kierkegaard-Seminar las ich auch einen Aufsatz Gotthold Ephraim Lessings (“Über den Beweis des Geistes und der Kraft”, 1777), den der grosse Däne in den vorzubereitenden Textabschnitt aufgenommenen hatte. Gegen Ende heisst es da:
“Gesetzt es gäbe eine große nützliche mathematische Wahrheit, auf die der Erfinder durch einen offenbaren Trugschluß gekommen wäre: – (Wenn es dergleichen nicht gibt: so könnte es doch dergleichen geben.) – leugnete ich darum diese Wahrheit, entsagte ich darum, mich dieser Wahrheit zu bedienen, wäre ich darum ein undankbarer Lästerer des Erfinders, weil ich aus seinem anderweitigen Scharfsinne nicht beweisen wollte, es für beweislich daraus gar nicht hielt, daß der Trugschluß, durch den er auf die Wahrheit gestoßen, kein Trugschluss sein könne?”
(aus: Gotthold Ephraim Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: ders.: Werke, Achter Band: Theologiekritische Schriften III / Philosophische Schriften, München: Carl Hanser Verlag 1979, S. 9-14, S. 14)
Was ich las? Nun: “Gesetzt, es gäbe eine grosse nützliche mathematische Wahrheit, auf die der Erfinder durch einen offenbaren Trugschluss gekommen wäre” – und jetzt stockte mir der Atem (noch bevor die Gefahr bestand, dass mich die Länge des Satzes aus der Puste bringt): Hatte Lessing hier der unschönen Vorstellung eines “offenbaren Trugschlusses” tatsächlich piktographisch Nachdruck verliehen?!
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