Rau und “Kaisers” – zum (neuen) Freiwilligenjahr

By , 04/12/2011 14:36

Als die deutsche Fussballnationalmannschaft vor einundzwanzig Jahren, 1990, im WM-Halbfinal gegen England antreten musste, war für mich, einen naiven, ziemlich vorurteilslosen, gerade zehn Jahre alt gewordenen Freizeitkicker, der Fall klar: “Man” unterstützt seinen Nachbarn! Dies war der Beginn meines grossen Interesses für den Fussball des “grossen Bruders” – das später auf andere Bereiche, insbesondere auf mein Politikinteresse und meinen Musikgeschmack, abfärbte. [1]

Meine Faszination für das Tun und Lassen Deutschlands gestern und heute ist also seit fast jeher gross und hat bis heute nicht nachgelassen. Entsprechend viele Bücher über die deutsche Nachkriegsgeschichte haben mich vor einem Monat auch in die neue Wohnung begleitet. Zum Beispiel das, zugegeben, unverfängliche Interviewbuch “Weil der Mensch ein Mensch ist… – Johannes Rau im Gespräch mit Evelyn Roll”, erschienen 2004, in dem der damals gerade erst abgetretene achte deutsche Bundespräsident (1999-2004) entspannt und bisweilen herrlich anekdotisch Bilanz zog über sein Leben in und ausserhalb der Politik. Diese Woche ist es mir wieder in die Hände gefallen. Eine kleine, feine Geschichte daraus:

Roll: Wer Ihnen persönlich schreibt, hat Chancen, auch eine persönliche Antwort zu bekommen?

Rau: Ja.

Roll: Sie haben erzählt, dass Ihr Vater Ihnen einmal eine Autogrammkarte vom Papst geschickt hat. Als Junge schon sollen Sie ausserdem mit Kaiser Wilhelm korrespondiert haben…

Rau: Ja, aber da habe ich nicht vom Kaiser, sondern von der Kaiserin Hermine Antwort bekommen. (…) Nach zwei, vielleicht drei Monaten kam ein Brief, der mir unvergesslich ist. Einmal, weil es der erste Freistempler war, den ich sah, der erste Brief, der keine Briefmarke hatte. Und dann, weil in dem Brief ein Bild des Kaisers mit seiner Unterschrift war. Auf der Rückseite dieses Bilders stand in einer mir unvergesslichen Schreibmaschinenschrift: Lieber Johannes, Seine Majestät hat sich über Deinen Brief vom Soundsovielten sehr gefreut und hofft, dass Du Deine Schularbeiten stets zur vollsten Zufriedenheit Deiner Eltern anfertigst. – Und dann noch ein paar Sätze, mit freundlichen Grüssen Hermine. Die Unterschrift sehe ich noch vor mir. Und das hat mich so geärgert, dass auch diesen Kaisers nichts anderes einfiel im ersten Satz als meine Schularbeiten.”

(Aus: Rau, Johannes/Roll, Evelyn: Weil der Mensch ein Mensch ist…, Rowohlt, Berlin 2004, S. 134f.)

Der vielbeschäftigte Homo Politicus und Privatmann Johannes Rau, übrigens zweifacher Ehrendoktor der Theologie, zog seine Lehren daraus – und machte es besser. Dies durfte ich selbst erfahren: Nachdem ich ihm Ende Juni 2004 einen Brief zu seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundespräsidenten geschrieben und darin, eher beiläufig, angetönt hatte, dass ich mich in Zukunft gerne ehrenamtlich engagieren werde, vielleicht in der Politik, vielleicht ausserhalb, kam seine, erstaunlich persönlich gehaltene, Antwort im wahrsten Sinne postwendend (der Stempel nennt als Aufgabedatum den 11.8.2004): ein freudiger Dank und ein paar motivierende Worte in punkto Freiwilligenarbeit – tatsächlich und erfreulicherweise ganz ohne paternalistische Hinweise zu Proseminararbeiten und dergleichen… Ich halte den Brief in Ehren.

Und damit sind wir, endlich, beim Thema: In vier Wochen, Ende dieses Monats, geht das Europäische Freiwilligenjahr 2011, das durchwegs eine schöne Geste ist, zu Ende. Gleichzeitig beginnt einen Tag darauf, nahtlos anschliessend, ein weiteres Jahr, in dem wir, als Individuen, Staat, Gesellschaft, ganz besonders als kirchliche Gemeinwesen, ohne Freiwilligenarbeit einpacken könnten. [2] Deshalb gilt in Wahrheit: “Freiwilligenjahr”? Ist immer – auch 2012.

Ich wünsche allen, die sich ehrenamtlich und mit viel Engagement für eine ihnen wichtige Sache einsetzen, häufig im Verborgenen, aber nicht minder effektiv, auch in Zukunft viel Freude, gutes Gelingen – und, offizielles Lobesjahr hin oder her, immer wieder einmal ein kleines Zeichen des Dankes.

Einen frohen zweiten Advent!

[1] Dass “man” als Schweizer eher keine Sympathien für Deutschland hegt, erfuhr ich spätestens zwei Jahre später, 1992, durch die lautstarke Schadenfreude derer, die sich über die EM-Finalniederlage Deutschlands gegen Dänemark mokierten. Dieses 0:2 war offenbar nur für mich ein (zwischenzeitlicher) Weltuntergang.
[2] Wobei uns nicht einmal beim Einpacken geholfen würde!

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